Faszien – das grosse Thema in Wissenschaft und Forschung der letzten 10 Jahre. Auch in der Bevölkerung wird das Wissen um das bedeutungsvolle Bindegewebe immer bekannter. Bücher und Videos spriessen wie Pilze aus dem Boden, es werden wissenschaftliche Abhandlungen geschrieben und internationale Kongresse veranstaltet. Fachleute sprechen vom Netzwerk der Gesundheit, von einem inneren Kosmos. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet ist der Chirurg Dr. Jean-Claude Guimberteau. Mit seinen spektakulären mikroskopischen Video-Aufnahmen versetzte er Fachleute und Laien in grosses Erstaunen. Eine neue Ära der Aufklärung begann. Das Wissen über die Faszien ist ein Schlüssel zum Verständnis unerklärlicher Rückenschmerzen. Faszien liefern zudem Erklärungen zur Wirksamkeit zahlreicher alternativer Behandlungsmethoden. Auch im Trainingsbereich haben die neuen Erkenntnisse zu einem Umdenken geführt und unzählige neue Angebote hervorgebracht.
Faszien sind feinste, netzartige Gebilde, die den ganzen Körper durchziehen. Wie ein Wabennetz umhüllen sie jede Muskelzelle und jedes Organ. Sie durchdringen Gefässe, Augen und sogar das Gehirn. Würde man alles aus dem Körper entfernen bis auf die Faszien, bliebe die Form des Körper und jedes Organs vollständig erhalten. Dieses Ganzkörper-Netzwerk sorgt für das sanfte Zusammenspiel aller Teile und ermöglicht uns harmonische Bewegung. In den Faszien zwischen Skelettmuskulatur und Unterhaut befinden sich 80 % der freien Nervenenden. Dort sind weitaus mehr Schmerzrezeptoren und Bewegungssensoren beheimatet als in den Muskeln. Diese ermöglichen uns „Propriozeption“, das Wahrnehmen von Bewegung und Position im Raum.
Das gesamte Fasziengeflecht reagiert wie ein Spinnenetz auf jede kleinste Bewegung. Wenn wir mit dem Zeigefinger die Computermaus bedienen, geht dieser Impuls bis zu den Füssen weiter. Deshalb kann andauernde Anspannung der Hand zu Schulterschmerzen führen, verspannte Nackenmuskulatur zu Kopfschmerzen. Die starke Lendenfaszie (Fascia thoracolumbalis) könnte massgeblich an den 80 % der Rückenschmerzen beteiligt sein, die als unspezifisch bezeichnet werden und bei denen man keine Ursache findet. Neben den Rückenschmerzen ist die „eingefrorene Schulter“ mit schmerzhafter Ausstrahlung in den Arm das häufigste Leiden der Büroarbeiter. Fachleute vermuten sogar einen Zusammenhang zwischen erkranktem Bindegewebe und Krampfadern, nächtlichem Zähneknirschen, Lungen- und Darmbeschwerden, Hüft- und Kniebeschwerden sowie Weichteil- und Gelenkrheuma.
Wie kommen diese Schmerzen zustande? Robert Schleip, Faszienexperte an der Universität Ulm, hat dafür verschiedene Erklärungen. Faszien reagieren auf Stresshormone und ziehen sich zusammen, unabhängig von den Muskeln. Mikroverletzungen durch Unfälle, falsche Belastung und Überforderung im Sport können sich zu Schmerzherden entwickeln. Auch Unterforderung, lange Bettruhe, falsche Ernährung und Bestrahlung führen zu Entzündungen und reizen die umliegenden Nerven. Die Hauptrolle für die Entstehung des Schmerzes spielen die sog. Fibrozyten (Faserzellen). Diese hochaktiven Zellen bilden die Matrix des inneren Netzes. Unermüdlich produzieren sie neue Fasern und bauen alte, verbrauchte Strukturen wieder ab. Sie regulieren die Spannung des Gewebes, indem sie elastische sowie zugfeste Fasern entstehen lassen. Wenn die Fibrozyten im Gewebe auf Entzündungen oder Wunden treffen, ziehen sie wie eine Spinne das Fasziennetz zusammen und produzieren grosse Mengen zugfester Kollagenfasern. Bei der Wundheilung ist dieser Mechanismus äusserst hilfreich, wenn aufklaffendes Gewebe sofort verschlossen werden soll. Problematisch wird es bei chronischen Entzündungen im Gewebe, verursacht durch Fehlhaltung und Überlastung. Es entsteht Fibrose, eine Verfilzung des Bindegewebes. Die Maschen des Netzwerkes verknoten und bilden Faseranhäufungen. Eine ungesunde Gewebespannung ist die Folge und bildet die Grundlage unzähliger Schmerzsymptome. Faszientherapie setzt genau hier an, indem verklebte Schichten wieder gelöst werden.
Gegen den inneren Filz hilft auch Dehnung. Sie bringt die Kollagenfasern dazu, sich neu zu ordnen und verbessert die Gleitfähigkeit in der Matrix. Ein Faszienstretching unterscheidet sich jedoch von reinen Muskeldehnungen, wie beispielsweise Dehnung der Waden oder Oberschenkel. Die Bewegungen werden langsam und sanft ausgeführt. Um in der Faszienstruktur eine nachhaltige Veränderung zu bewirken, muss die Dehnung mind. zwei Minuten gehalten werden. Mit gestreckten Armen und Beinen werden die grossen Faszien über die Länge des ganzen Körpers gedehnt.
Regelmässige Bewegung wirkt anti-fibrotisch und regt das Bindegewebe an, sich neu zu strukturieren. Verfilzte Ketten werden mit molekularen Werkzeugen aufgelöst. Innerhalb eines Jahres wird die Hälfte der Kollagenfasern im Körper erneuert. Mit gezielten Trainingsübungen, beispielsweise mit Spiralstabilisation, kann in diesem Zeitraum eine sichtbare Verbesserung der Gesamtstruktur erreicht werden. Allerdings ist nicht jede Art von Bewegung gleich förderlich. Monotone, sich wiederholende Bewegungsmuster lieben die Faszien überhaupt nicht. Um gesund und locker zu bleiben, brauchen Faszien vielfältige Reize. Elastische, federnde Bewegungen sind bestens geeignet, um die Faszienfitness zu fördern: hüpfen, klettern, tanzen, barfuss gehen, springen, über einen Baumstamm balancieren. Durch grosse Bewegungen, Strecken und Recken bildet sich Flüssigkeit im Bindegewebe und die verschiedenen Schichten gleiten mühelos übereinander. Dieses seidige Gleiten ist entscheidend für die Gesundheit und Schmerzfreiheit des Bindegewebes.